Essay zur Unvoreingenommenheit

 

Nicole Langenegger, 11.Okt 2019

 

Was mir als erstes auffällt: Unvoreingenommen ist in der Vergangenheit geschrieben. – es heisst ‘eingenommen‘ – nicht ‘einnehmen‘. Es ist also schon was eingenommen, schon was einverleibt, schon was im Besitz.

Einnehmen kann ich vieles: Eine Burg, den Lohn, das Frühstück, die Pille, Raum, Sympathie, eine Person, den Sitzplatz, einen Posten, einen Standpunkt, eine Haltung…

Genauer:

Eine Burg erobern, den Lohn erhalten, das Frühstück mir einverleiben, die Pille schlucken, Raum beanspruchen, Sympathie gewinnen, eine Person beanspruchen, mich auf den Platz setzen, einen Posten besetzen, einen Standpunkt vertreten, Haltung zeigen…

Jetzt kommt noch das Wörtchen vor dazu.

Da ist was schon vorher geschehen – also schon vor dem Eingenommen ist was. Aber was? Bevor die Burg erobert wird – was ist da? Bevor das Frühstück einverleibt wird – was ist da? Bevor die Sympathie gewonnen wird – was ist da? Und so weiter….

Es sind Gefühle, vielleicht Wünsche, vielleicht Sehnsucht, vielleicht Angst, vielleicht Gedanken.

Dies alles kann mich voreinnehmen. Dies kann mich gefangen nehmen, mich besitzen, mich beanspruchen, mich besetzen. Somit BIN ich voreingenommen. Ich selbst bin eingenommen von Gefühlen, Wünschen, Sehnsüchte, Ängsten, Gedanken.

Ich selbst nehme mich ein? Schon bevor ich was mache/wage, nehme ich mich selbst ein?

Ja, ich nehme mich selbst ein! Ich besetze mich selbst, nehme mich in Gefangenschaft, schlucke mich selbst, beanspruche mich selbst…

Es ist auch Schutz, natürlich und legitim. Dann wenn ich verletzlich bin. Dann, wenn ich mich nicht besitze, nicht in meiner Macht stehe, wenn ich nicht genährt bin, wenn ich mich benutzen lasse, wenn ich keinen Platz habe, wenn mir den Raum genommen wir, wenn ich keinen Halt habe.

Aber es ist noch nicht fertig! Es kommt noch das Wörtchen un dazu!

Die Umkehrung, die Verneinung der Gegebenheit. Also das Gegenteil von Voreingenommenheit.

Das ‘nicht-voreingenommen-sein‘.

Wenn ich unvoreingenommen bin, dann bin ich demzufolge ohne Angst. Dann bin ich im Jetzt. Dann bin ich nicht mit den Gedanken von ‘Was könnte passieren, wenn…‘, dann bin ich frei von Wünschen, unabhängig, ob sie in Erfüllung gehen oder nicht.

Dann bin ich frei!

Unvoreingenommenheit heisst für mich: Ich nähre mich, ich besitze mich, ich vertrete mich, ich halte mich, ich nehme mich.

Und:

Ich überrasche mich!

Was heisst jetzt das: Ich überrasche mich? Wie jetzt das?

Ja, ich selbst kann z.B. auch eine andere Person einnehmen, wie eine Burg. Eine Person erobern, sie in meinen Besitz nehmen. Ich weiss dann, wie sie fühlt, ich weiss, wie sie reagiert, ich weiss, ihr Haltung und ihren Standpunkt.

Unvoreingenommen ist, wenn ich nicht weiss. Wenn ich nicht beim anderen bin. Ich fühle nicht für ihn, ich kenne seine Reaktion nicht. Ich lasse mich überraschen – von der Person und von mir!

Halt, halt! Das mit dem Überraschen-lassen ist so eine Sache. Ich habe ja auch meine Erfahrungen, Verletzungen – tief gespeichert, ob bewusst oder unbewusst. Diese Erfahrungen beschützen mich, sie bewahren mich vor Wiederholungen, die mir schaden. Dies im besten Fall.

Ja, ich gebe zu, das ist zweischneidig: Im schlechten Fall verhindern sie bei mir auch neue Schritte, neue Wagnisse. Im schlechten Fall zeigen sie sich in Muster und Masken.

Trotzdem: Reine Unvoreingenommenheit ist leichtsinnig und fahrlässig!

Schön gesagt! Stimmt – leicht in den Sinnen und lässt fahren.

Schon gut. Wie geht das also, die Verbindung von gespeicherten Erfahrungen, meinen eigenen Schutz und das Unvoreingenommen-sein?

Es geht, wenn ich die Reaktionen des anderen wirklich auf mich wirken lassen, wenn ich sie immer wieder von neuem wahrnehme – als Wahrheit nehme – jetzt, gerade im Augenblick, ist sie wahr. Wenn ich sie auf mich wirken lasse – neu. Mein Fühlen wahrnehme – als Wahrheit nehme. Wach – nicht blind. Kraftvoll – nicht ohnmächtig. Wahrhabend – nicht beschönigend. Authentisch – nicht manipulierend. Haltend – nicht hinhaltend. Und darauf vertraue, dass die gespeicherten Erfahrungen und mein Schutzbedürfnis mich im Guten leiten – in mein authentisches Reagieren und Handeln.

 Denn: Ich nähre mich, ich besitze mich, ich vertrete mich, ich halte mich, ich nehme mich.

Und in der göttlichen Verbindung: Ich bin genährt, ich bin Besitz, ich bin vertreten, ich bin gehalten, ich bin genommen.

                                                                                              

 

Aus dem Duden über Unvoreingenommenheit:

Neutral, unparteiisch, sachlich, vorurteillos. Objektiv = nicht von Gefühlen und Vorurteilen bestimmt. Nüchtern und frei von Emotionen.

 

Aus dem Duden über Voreingenommen:

Befangen, einseitig, parteiisch, tendenziös, individuell, persönlich. Subjektiv = von einseitigem Standpunkt einer Person aus gesehen. Von Gefühlen, Vorurteilen, persönlicher Meinung bestimmt.